Wenn uns in der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz einige Gemälde noch Rätsel aufgeben, dann sind es solche im Gotischen Haus in Wörlitz. In der Kunstgeschichtswissenschaft werden vor allem Fragen nach dem Künstler, nach der Entstehungszeit, nach dem dargestellten Thema und – nicht zuletzt – nach der Funktion eines Bildes in seinem speziellen Kontext gestellt.
So finden sich etwa im Wohnzimmer des Gotischen Hauses, im Kriegerischen Kabinett und in der Bibliothek vier Gemälde, die eine Gemeinsamkeit haben: Sie alle sind stark verkleinerte Kopien nach Monumentalgemälden der neben Tizian berühmtesten venezianischen Meister: Paolo Veronese (1528–1588), Jacopo Robusti, gen. Jacopo Tintoretto (1518–1594) und Giovanni Battista Tiepolo (1696–1770), Historiengemälde, in denen mythologische und religiöse Szenen ins Bild gesetzt wurden.
Eines dieser Bilder, die in Öl auf Leinwand in den Maßen 79,3 x 148,9 cm gemalte Kopie nach einem Gemälde Veroneses, zeigt die um 1570 entstandene, im Neuen Testament (Lukas 7,36-50) erzählte Szene mit Christus beim Festmahl im Haus des Pharisäers Simon. Dargestellt ist die Sünderin bei der Fußwaschung Christi. Christus vergibt ihr trotz des Widerspruchs und der Zweifel der anwesenden Gäste die Sünden und begründet dies mit dem tiefen Glauben der Frau. Das ehemals für das Refektorium des Servitenklosters in Venedig gemalte 4,54 x 9,74 Meter große Gemälde befindet sich heute im Herkulessaal (Salon d'Hercule), in den Großen Gemächern des Königs (Grand Appartement du Roi) im Schloss Versailles in Paris. Die Republik Venedig hatte das Bild 1664 als Geschenk an Ludwig XIV. für die zuvor hier befindliche Kapelle überreicht. Die Kopie des Bildes wird als ursprüngliche Ausstattung des Wohnzimmers im Gotischen Haus von August von Rode in seiner Beschreibung von 1818 (S. 49) und auch in späteren Inventarbeschreibungen (Hosäus, 1902; Hartmann, 1913; Harksen, 1939) bezeugt.
Auch das im Kriegerischen Kabinett im Gotischen Haus aufgehängte, 58 x 42,8 cm große, in Öl auf Eichenholz gemalte Gemälde, das die bekannte christliche Legende der „Mystischen Vermählung der hl. Katharina" erzählt, ist eine Kopie nach einem Monumentalgemälde desselben berühmten venezianischen Meisters Paolo Veronese. Rode erkennt in seinem Inventar von 1818 weder den Maler noch das Vorbild, als er auf Seite 26 unter Nr. 12 schreibt: „Königin, dem Kinde Mariens huldigend, das diese auf den Knien hält, von Batt. Franko detto il Veneziano (eigentlich Giovanni Battista Franc (1510-1561)“. Das berühmte Vorbild dieser verkleinerten Kopie ist im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts entstanden und befindet sich bis heute in der Gallerie dell' Accademia in Venedig. Die monumentale, figurenreiche Komposition ist in Öl auf Leinwand gemalt und misst 3,37 x 2,41 Meter. Da die Wörlitzer Wiederholung in anderen Farben als das Original gemalt ist, kann vermutet werden, dass der Kopist das Gemäldevorbild gar nicht kannte, sondern sich der künstlerisch hervorragenden, 1582 entstandenen Reproduktionsgraphik des Veronese-Gemäldes des namhaften italienischen Künstlers Agostino Carracci bedient hat.
Die Kopie nach Tintoretto entstand nach einem großformatigen Leinwandgemälde, das noch heute gleich rechts nach dem Eintritt in die venezianische Kirche San Rocco zu erleben ist. Das vielfigurige, 2,38 × 5,60 Meter große, um 1559 in Öl auf Leinwand gemalte Werk wurde auf ein Maß von 63 x 98,5 cm reduziert und an der Unterkante durch ein Architekturfries erweitert. Das Bild zeigt die neutestamentarische Schilderung der „Heilung eines Kranken am Sabbat“ oder auch“Heilung des Lahmen am Teich Bethesda” (Johannes 5,1-24). Das heute im Wohnzimmer des Gotischen Haus befindliche Gemälde findet erstaunlicherweise weder bei Rode 1818 noch in den nachfolgenden Beschreibungen des Interieurs Erwähnung. Möglicherweise konnte diese Szene nicht identifiziert werden.
Auch die nur 53,5 x 71 cm kleine, auf Leinwand gemalte Kopie nach Tiepolo im Gotischen Haus (bei Rode 1818, S. 40, bezeichnenderweise Paolo Veronese zugeschrieben) geht auf ein monumentales Vorbild zurück. Das 2,59 x 3,46 Meter große, bei Tieopolo 1742-1743 für die Sammlung Augusts III. von Sachsen durch den Kunstkenner und -agenten Francesco Algarotti in Auftrag gegebene und erworbene Gemälde befindet sich heute in der National Gallery in Melbourne. Mit dem Bild wollte Algarotti dem König eine Vorstellung von der „École Vénitienne“ geben und Tiepolo als hochtalentierten Nachfolger Paolo Veroneses anpreisen. Er hatte hierzu seinem Malerfreund geraten, sich größerer Genauigkeit zu befleißigen, etwa die gemalten Bauten, Skulpturen und Kostüme historisch exakt darzustellen. Das Wörlitzer Bild hat die gleichen Maße wie ein als bozzetto (Entwurf) bezeichnetes Gemälde im Musée Cognacq-Jay in Paris, entspricht ihm auch in allen Einzelheiten und ist von ähnlicher malerischer Qualität. Möglicherweise stammt das Werk in Paris ebenfalls aus dem Verkauf der durch Friedrich II. von Preußen nach dem Siebenjährigen Krieg aufgelösten Sammlung Augusts III. in Schloss Hubertusburg, die zum großen Teil durch Algarotti zusammengetragen worden war. Anders als bei den drei anderen Gemälden wird hier eine antike Episode aus der Geschichte der Kleopatra dargestellt, die Plinius in seiner Naturalis Historia, Buch IX (28) beschreibt.
Wichtige Fragen zu den Bildern sind somit bereits geklärt. So kennen wir die Künstler der Originale, kennen die Vorbilder der Kopien bzw. des bozzetto sowie ihre ursprünglichen Standorte und haben erfahren, welche Geschichten in den Bildern vorgetragen werden. Alle vier Vorbilder wurden von Großmeistern der venezianischen Malerei gemalt, drei der Bilder hatten ursprünglich ihren Platz in einer der zahlreichen venezianischen Kirchen, eines war für die Sammlung eines Kurfürsten bzw. eines Königs gemalt. Zwei Gemälde hatten neutestamentarische Themen, einem lag eine christliche Heiligenlegende zugrunde, und das zuletzt genannte folgt einer antiken Erzählung. Bleiben die Fragen offen, durch wen die Kopien und zu welchem Zweck sie angefertigt beziehungsweise warum sie für das Gotische Haus ausgewählt oder beauftragt wurden.
Während die erste Frage weiterhin offen bleiben muss, weil sich bislang dazu keine Hinweise finden lassen, kann man zur zweiten Frage zumindest eine Vermutung anstellen. Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, der wie beim Schloss auch bei der Ausstattung des Gotischen Hauses dem Fürsten Franz beratend zur Seite stand, war es ein Anliegen, angeleitet zumindest durch Algarottis Schriften – eine persönliche Begegnung ist vorstellbar, aber nicht bezeugt - , den Besuchern die hohe Qualität und die besonderen Eigenschaften der venezianischen Malerei anhand bedeutender und beispielhafter Hauptwerke vor Augen zu führen. Er selbst hatte die großen Vorbilder aus eigener Anschauung während seiner Venedig-Aufenthalte kennengelernt, so etwa das Werk Tintorettos am 1. Dezember 1765.
Dr. Wolfgang Savelsberg, Abteilung Schlösser und Samlungen